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Betrug durch Umherschieben von Aktien

Milliarden-Steuerraub durch "Cum-Ex"-Geschäfte

  • Veröffentlicht: 18.10.2018
  • 20:28 Uhr
  • dpa
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© Alexander Heinl/dpa

Durch das Hin- und Herschieben von Aktien wurden EU-weit im ganz großen Stil Finanzämter getäuscht und betrogen. Sie erstatteten Milliardensummen an Steuern zurück, die nie gezahlt wurden - und zahlten so unter dem Strich viel mehr aus als sie einnahmen. Zu schwerwiegenden Lasten des normalen Steuerzahlers. Der Schaden könnte bei über 50 Milliarden liegen - durch neue Erkenntnisse gerät auch die Bundesregierung in erhebliche Erklärungsnot.

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Aktienhändler nutzen Schlupflöcher und prellen den Staat um Milliardensummen - Steuergeld, das für Investitionen in Kitas, Schulen und Infrastruktur fehlt: Der Schaden für die Staatskasse durch dubiose "Cum-Ex"-Steuergeschäfte ist Medieninformationen zufolge deutlich höher als angenommen. Der Schaden beläuft sich demnach auf mindestens 55,2 Milliarden Euro.

Das haben Untersuchungen des Recherchezentrums "Correctiv" ergeben, an denen unter anderem das ARD-Magazin "Panorama", die Wochenzeitung "Die Zeit" und "Zeit Online" beteiligt waren. Betroffen sind demnach neben Deutschland mindestens zehn weitere europäische Länder.

Beutezug auf Kosten der europäischen Steuerzahler

Von einem "Beutezug" durch Europa auf Kosten der Steuerzahler war die Rede. Allein deutschen Finanzämtern seien nach Berechnungen des Steuerexperten Christoph Spengel von der Universität Mannheim zwischen 2001 und 2016 mindestens 31,8 Milliarden Euro entgangen. Dem "Mannheimer Morgen" (Freitag) sagte der Wissenschaftler, der deutsche Staat habe jahrelang tatenlos zugesehen, dass er "wie eine Weihnachtsgans ausgenommen" worden sei. Die Politiker hätten den Schaden jahrelang kleingeredet.

Dem Bundesfinanzministerium und dem Bundeszentralamt für Steuern sind bisher für Deutschland 418 Fallkomplexe mit einem Volumen von 5,7 Milliarden Euro bekannt, teilte die Parlamentarische Staatssekretärin Christine Lambrecht (SPD) mit. Die Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) habe zudem Kenntnis von aktuell 72 "Cum-Ex"-verdächtigen Geschäften. Hinzu kämen weitere noch zu prüfende 19 Verdachtsfälle.

Rasches Umherschieben sollte verschleiern, wem Papiere gehören

Bei den umstrittenen Geschäften schoben Investoren rund um den Dividendenstichtag Aktien mit ("cum") und ohne ("ex") Ausschüttungsanspruch rasch zwischen mehreren Beteiligten hin und her. Diese ließen die Papiere untereinander zirkulieren, bis dem Fiskus nicht mehr klar war, wem sie überhaupt gehörten. Die Folge der Karussellgeschäfte: Bescheinigungen über Kapitalertragsteuern und den darauf entfallenden Solidaritätszuschlag wurden mehrfach ausgestellt, obwohl sie nur einmal gezahlt wurden. Die Folge: Finanzämter erstatteten dadurch mehr Steuern, als sie zuvor eingenommen hatten.

2012 wurde das Steuerschlupfloch geschlossen. Das Thema wurde auch Thema eines Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags. Laut "Correctiv" soll Deutschland die anderen europäischen Länder zudem erst 2015 vor den Umgehungsgeschäften gewarnt haben, obwohl es laut den Rechercheergebnissen bereits seit 2002 Bescheid gewusst habe. An den Recherchen waren 19 Medien aus 12 Ländern beteiligt.

Das Bundesfinanzministerium betonte hierzu am Donnerstag in Berlin, man habe sehr wohl in der Vergangenheit diverse Staaten, "auch auf deren Nachfrage hin, über die Verfahrensweise bei "Cum-Ex"-Geschäften informiert". Eine Liste mit dem genauen Datum der jeweiligen Information konnte auf Nachfrage aber nicht vorgelegt werden - das Ministerium verwies auf Vertraulichkeit gegenüber EU-Partnern.

Ohne Zusammenarbeit gegen Steuerkriminalität ist Betrug wiederholbar

Die Grünen forderten umgehende Aufklärung von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD): Wenn auch nach 2012 weiter betrogen werden konnte, "dann wäre das ein ungeheuerliches Versagen und eine bodenlose Blamage für die deutsche Finanzpolitik", sagte der Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter. Er erwarte von Scholz, dass er sich gegenüber dem Bundestag erklärt und dort lückenlos aufklärt.

"Weil es keine europäische Finanzpolizei gibt und die Regierungen bei Steuerkriminalität nicht zusammenarbeiten, ist dieser Raubzug überhaupt erst möglich geworden", kritisierte der Grünen-Politiker Gerhard Schick, der den "Cum-Ex"-Untersuchungsausschuss forciert hatte. Die Rendite bei den Geschäften werde allein aus Steuergeld erzielt.

Ein Sprecher von Scholz betonte, im Mai 2018 habe sich die EU auf eine Richtlinie für die Einführung eines automatischen Informationsaustauschs über bestimmte grenzüberschreitende Steuergestaltungsmodelle geeinigt. "Wir beraten derzeit mit den Ländern über die Umsetzung dieser Richtlinie in deutsches Recht."

Hessische Behörden strengen erste Anklagen an

In Deutschland gingen besonders die hessischen Behörden bisher gegen die umstrittenen Geschäfte vor. Die Finanzverwaltung habe bislang in 32 Steuerfällen ermittelt, sagte Finanzminister Thomas Schäfer (CDU). "In 10 Fällen sind die Prüfungen abgeschlossen. 770 Millionen Euro, die dem Staat entzogen wurden, konnten wir bereits wieder für das Gemeinwesen verbuchen." Insgesamt wird der Schaden durch "Cum-Ex"-Geschäfte in Hessen auf rund 1,3 Milliarden Euro durch mehrfach und damit zu Unrecht geltend gemachte Kapitalertragsteuer beziffert.

Im Mai hatte die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft die bundesweit erste Anklage wegen "Cum-Ex" erhoben. Die Strafverfolger werfen einem aus Hessen stammenden Anwalt sowie fünf ehemaligen Mitarbeitern der Hypovereinsbank schwere Steuerhinterziehung vor. Darauf stehen bis zu zehn Jahre Haft. Es geht um eine Summe von gut 113 Millionen Euro. Abgewickelt wurden die Deals laut Staatsanwaltschaft über die Gesellschaft eines inzwischen verstorbenen Privatinvestors.

Der Anwalt, der mittlerweile in der Schweiz lebt und früher in der hessischen Finanzverwaltung arbeitete, soll "die Steuerhinterziehung auf Basis von "Cum-Ex"-Geschäften als Geschäftsmodell für Privatkunden maßgeblich entwickelt und sich auch um die Akquise des Investors gekümmert haben". Über die Zulassung der Anklage beim Landgericht Wiesbaden ist noch nicht entschieden.

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