Jahresrückblick
Das verrückte Politik-Jahr 2017
- Veröffentlicht: 29.12.2017
- 08:01 Uhr
- dpa
Eine Sehnsucht nach politischer Veränderung hat Deutschland 2017 geprägt. Sie hat in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein zu einem Wechsel geführt. Einzige Ausnahme ist das Saarland. Und im Bund? Da herrscht noch Rätselraten.
Für die Deutschen neigt sich ein politisches Jahr dem Ende zu, in dem sich viele, zum Teil auch liebgewonnene Gewissheiten aufgelöst haben. Das verunsichert zum Teil selbst Menschen, die sich eigentlich frischen Wind wünschen. So wie es jetzt aussieht, könnte auch 2018 wieder ein Jahr der Überraschungen werden.
Union und SPD haben 2017 kräftig Federn gelassen. Die totgesagte FDP hat sich mit Macht zurückgemeldet. Die AfD hat mit ihrem Einzug in den Bundestag bewiesen, dass der Leitsatz von Franz Josef Strauß, wonach es rechts von der CSU «keine demokratisch legitimierte Partei geben» dürfe, nicht ewig gilt.
Die Republik wartet auf eine neue Regierung
Deutschland hat zum Jahresende eine geschäftsführende Bundesregierung. Die Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge ist gesunken, obwohl die Zahl der Neuankömmlinge abgenommen hat. Überwachungspläne konservativer Innenpolitiker, die vor Jahren noch massiven Protest hervorgerufen hätten, stoßen angesichts einer hohen terroristischen Bedrohung inzwischen auf größere Akzeptanz.
Alte Gewissheit Nummer Eins: Wenn im Herbst Bundestagswahl ist, hat Deutschland spätestens zu Weihnachten eine neue Regierung
Nach der Bundestagswahl am 24. September stehen die Zeichen auf Schwarz-Gelb-Grün. Doch FDP-Chef Christian Lindner zeigt dem Jamaika-Projekt am 20. November die kalte Schulter. Das schockiert diejenigen, die auch schon vom Brexit und von der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten überrascht wurden. Durch Lindners «Nein» ist eine Situation entstanden, die es so noch nie gab. Das sorgt für Verunsicherung. Vor allem Anhänger der Theorie, dass Europa in unruhigen Zeiten eine stabile deutsche Regierung brauche, rufen jetzt nach einer Neuauflage der ungeliebten großen Koalition.
Gewissheit Nummer Zwei: Wenn sich CDU und SPD in einem Landesparlament zusammentun, können sie gemeinsam eine tragfähige Regierung bilden
In Sachsen-Anhalt regiert seit 2016 eine «Kenia-Koalition» aus CDU, SPD und Grünen. Das ist für die Beteiligten nicht leicht, wie sich in diesem Jahr gezeigt hat. Das Bündnis muss im August eine Belastungsprobe überstehen, als eine Mehrheit der CDU-Abgeordneten für einen Antrag der AfD zur Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung von Linksextremismus stimmt. Andere Farbenspiele waren in Magdeburg nicht denkbar gewesen, nachdem die SPD nur 10,6 Prozent und die CDU 29,8 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Die AfD war mit 24,3 Prozent durch die Decke gegangen. Dass inzwischen drei Abgeordnete die AfD-Fraktion verlassen haben, ist für die Regierenden ein schwacher Trost.
Gewissheit Nummer Drei: Brummt die Wirtschaft, profitieren die Regierungsparteien. Populismus und radikale Ideen zünden nicht
Im Oktober sinkt die Zahl der Erwerbslosen erstmals seit der deutschen Wiedervereinigung unter 2,4 Millionen. Die Unternehmen sind zuversichtlich. Eine so lange Phase des Aufschwungs hat Deutschland lange nicht erlebt. Trotzdem verlieren die Parteien der großen Koalition an Boden. Der Stimmenanteil der Union schrumpft bei der Bundestagswahl um mehr als acht Prozentpunkte auf 33 Prozent. Die SPD sinkt um gut fünf Prozentpunkte auf 20,5 Prozent. Die AfD landet mit 12,6 Prozent auf dem dritten Platz. Gleichzeitig wird das gesellschaftliche Klima immer ungemütlicher. Linksextremisten lassen ihrer Zerstörungswut am Rande des G20-Gipfels in Hamburg freien Lauf. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird im Wahlkampf von rechten Pöblern gestört.
Personell blieb 2017 vieles beim Alten - zumindest auf Bundesebene. Ausnahmen sind SPD und AfD
Im Januar verkündet SPD-Chef Sigmar Gabriel überraschend per Interview seinen Verzicht auf Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur. Beide Aufgaben übernimmt der bisherige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) wird Bundespräsident. Gabriel übernimmt das Auswärtige Amt.
Für die Diplomaten ist der neue Chef, mindestens eine Herausforderung. Denn diplomatische Zurückhaltung gehört nicht gerade zu Gabriels vornehmsten Tugenden. Doch wer weiß - vielleicht freut sich der eine oder andere Diplomat ja auch heimlich, wenn der Minister gegen den «nationalen Egoismus» à la US-Präsident Donald Trump oder das «politische Abenteurertum» am Golf wettert.
Vom Erlöser zum Verlierer
In den ersten Wochen nach seiner Ankunft im politischen Berlin wird Schulz von Genossen und Medien gefeiert. Er ist der bärtige «Erlöser» der SPD. Doch der Hype währt keinen Sommer lang. In den letzten Wochen vor der Wahl sagt Schulz häufig, «wenn ich Kanzler werde». Das klingt manchmal fast wie Autosuggestion.
Beim AfD-Bundesparteitag in Köln wirbt Parteichefin Frauke Petry für einen «realpolitischen Kurs» und unterliegt. Alice Weidel und Alexander Gauland führen die Partei in den Bundestagswahlkampf. Kurz nach der Bundestagswahl verlässt Petry die AfD, der sie eine zunehmende «Radikalisierung» bescheinigt.
Seehofer muss zum Teil gehen
Aus den Unionsparteien ist ein vernehmbares Grummeln zu hören. CSU-Chef Horst Seehofer muss seinem Intimfeind, dem bayerischen Finanzminister Markus Söder, das Amt des Ministerpräsidenten Anfang 2018 überlassen. Seehofer bleibt aber zumindest Parteivorsitzender. Dass Merkel nach der Bundestagswahl und dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen keinen Anlass für Selbstkritik und Kurskorrektur sieht, sorgt zwar für Stirnrunzeln. Doch keiner traut sich aus der Deckung - nicht einmal Finanz-Staatssekretär Jens Spahn.
Der Historiker Heinrich August Winkler forderte die Union kürzlich in einem Gastbeitrag für die «Süddeutsche Zeitung» auf, eine Minderheitsregierung zu bilden. Er warnt: «Die parlamentarische Demokratie lebt von der Parteienkonkurrenz. Diese ist ernsthaft bedroht, wenn sich die beiden größten Parteien durch den ständigen Zwang zum Regierungskompromiss einander so stark annähern, dass darüber ihr eigenes Profil verschwimmt und scharfe Wahlkampfrhetorik unglaubwürdig wirkt.» Profitieren würden davon nur die jeweiligen Konkurrenten rechts und links. Etwas weniger staatstragend formuliert ein Abgeordneter der Grünen seinen Wunsch für 2018: «Bloß nicht noch einmal vier Jahre GroKo-Geschnarche.»