"Hölle" oder Chance? -
Debatte um Mindestalter im Spitzensport
- Veröffentlicht: 03.06.2022
- 18:17 Uhr
- dpa
In Tokio gewinnt eine 13-jährige Skaterin Olympia-Gold. In Peking steht eine Teenagerin im Zentrum einer Doping-Affäre. Ist das Kindern zumutbar? Im Eiskunstlaufen könnte sich nun etwas ändern.
Eine Einzelmedaille schien nur Formsache, als die damals 15-jährige Eiskunstläuferin Kamila Walijewa zu den Olympischen Winterspielen nach Peking reiste. Doch nach tagelangem Wirbel um ihre positive Dopingprobe hielt die Teenagerin dem massiven öffentlichen Druck nicht stand: Walijewa kämpfte bei ihrer Einzel-Kür mit den Tränen, patzte und verpasste eine Medaille. Der verstörende Absturz der jungen Eis-Prinzessin befeuerte Rufe nach einem Mindestalter im Spitzensport. Die Internationale Eislauf-Union (ISU) will nun über die Erhöhung der Altersgrenze auf 17 Jahre abstimmen. Auch in anderen Sportarten gehören Kinder zur Weltelite. Experten warnen.
Der Ausrichter der Olympischen Spiele, das Internationale Olympische Komitee (IOC), überlässt den Sportverbänden die Entscheidung, ein Mindestalter einzuführen. So müssen Turner mindestens 16 Jahre alt sein, bei Skateboardern gibt es keine Altersgrenze nach unten. Als Reaktion auf den Olympia-Skandal hatte das IOC die Weltverbände jedoch dazu gedrängt, ein generelles Mindestalter im Sport zu prüfen.
In vielen Sportarten hätte die Anhebung des Alters eklatante Folgen. "Bei uns würden viele junge Mädchen Medaillen verpassen", sagte die 14 Jahre alte Skateboarderin Lilly Stoephasius. Im vergangenen Jahr hatte die Berlinerin als jüngste Deutsche an den Sommerspielen von Tokio teilgenommen. Bei den Damen wurden damals alle Medaillen an Teenagerinnen vergeben - in der Disziplin Street gingen Gold und Silber sogar an zwei 13-Jährige.
"Bei uns halte ich ein Mindestalter nicht für nötig", sagte Stoephasius. Die Diskussion um eine Altersgrenze empfinde sie zwar als sinnvoll, dennoch müsse zwischen den Sportarten differenziert werden. So sei das Skateboarding als Sportart vergleichsweise weniger strukturiert und werde mit weniger Druck ausgeübt. "Es gibt keine krasse Konkurrenz-Stimmung. Wir haben Spaß und unterstützen uns gegenseitig. Bei mir gab es keinen Druck", berichtete Stoephasius.
Werden Kinder zu Hochleistungsmaschinen gezüchtet?
Damit sie alle Anforderungen bewältigen kann, stellt ihr der Deutsche Rollsport und Inline-Verband (DRIV) "sportpsychologisches Personal" zur Verfügung. Zudem bekommt Stoephasius Medientraining. Eine Teilnahme der Teenagerin im Spitzensport sei vertretbar, meinte der Leistungssportreferent Skateboarding im DRIV, Sebastian Barabas.
Trotzdem warnen Wissenschaftler wie Heinz Reinders davor, dass Kinder auf großer Bühne zu Hochleistungsmaschinen werden. Der Pädagoge forscht zum Thema Begabungsförderung und leitet an der Uni Würzburg das Nachwuchsförderzentrum für junge Fußballerinnen. "Pädagogisch gesehen ist Leistungssport im öffentlichen Raum vor einem Alter von 14 Jahren immer sehr bedenklich", sagte Reinders. Schließlich seien viele Entwicklungsaufgaben noch nicht produktiv bewältigt, und neben der normalen Lebensbewältigung kämen zusätzliche Stressfaktoren hinzu.
Leistungssport ist auch "positive Anerkennung" - idealerweise
Dennoch muss die Teilnahme an Spitzensport-Events für Kinder nicht zwingend eine "seelische Hölle" sein, wie Reinders erklärte. Eine Teilnahme könne durchaus "positiv sinnstiftende" Elemente für Nachwuchs-Talente haben. Das gelte immer dann, wenn das gesamte Umfeld der Heranwachsenden vermittele: "Leistungssport ist eine positive Anerkennung". Problematisch werde es, wenn Eltern und Verbandsfunktionäre nicht das Wohlergehen der Nachwuchshoffnungen in den absoluten Mittelpunkt rückten, sagte der Pädagoge.
Die Entscheidung des Eislauf-Weltverbands, der in seinem am Sonntag beginnenden Jahreskongress in Phuket über die schrittweise Anhebung des Mindestalters auf 17 Jahre abstimmen lassen will, könnte Signalwirkung auf andere Verbände haben. Wie aus dem Agenda-Entwurf für den Kongress hervorgeht, erfolgt der Vorschlag des ISU-Rats "zum Schutz der körperlichen und geistigen Gesundheit sowie des emotionalen Wohlbefindens der Läuferinnen und Läufer".
Wem bringt der jugendliche Einsatz was?
Neben dem IOC unterstützt auch die Deutsche Eislauf-Union (DEU) den Vorstoß. "Dies würde unserem Ziel, unsere Athleten mit mehr Weitsicht und Langfristigkeit auf die Höchstschwierigkeiten vorzubereiten, entgegenkommen", sagte die Sportdirektorin des in München ansässigen Verbandes, Claudia Pfeifer.
Erziehungswissenschaftler Reinders appelliert vor allem an Medien, Familien und Verbände. "Was bringt uns die Teilnahme eines Kindes? Und was bringt die dem Kind? Wenn wir auf die erste Frage mehr ehrliche Antworten als auf die zweite Frage finden, geht es nicht mehr um den Sportler und die Sportlerin, sondern um äußere Interessen", sagte Reinders. Dies sei ein "tiefrotes" Signal.