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UN warnen

In Syrien droht die "totale Katastrophe"

  • Veröffentlicht: 12.03.2014
  • 16:45 Uhr
  • mre, RTR
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Jubel bricht aus unter den syrischen Flüchtlingen in der türkischen Grenzstadt Kilis, als sie die Kunde erreicht, dass ihr Heimatort Assas befreit wurde - aber nicht etwa von der Herrschaft des Präsidenten Baschar al-Assad, sondern vom Schreckensregime der Al-Kaida. Die Extremisten waren mit dem Versprechen nach Assas gekommen, die Bewohner vor Gräueltaten der Regierung zu schützen. Doch sie entpuppten sich als noch viel größeres Übel. Schnell wurde in Assas klar, was viele Assad-Gegner in anderen Landesteilen und im Ausland schon seit geraumer Zeit eingestehen mussten: Drei Jahre nach dem Ausbruch des Aufstands geht es längst nicht mehr nur um den Sturz Assads. Mindestens genauso wichtig ist es, die selbst ernannten Gotteskrieger in die Schranken zu verweisen.

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Was im März 2011 als Protestbewegung im Zuge des Arabischen Frühlings begann, hat sich zu einem der blutigsten Bürgerkriege der vergangenen Jahrzehnte entwickelt. 140.000 Menschen wurden nach Angaben der Opposition getötet, 2,4 Millionen haben ihre Heimat aus Angst vor der Gewalt verlassen. In Kürze dürften Syrer nach Einschätzung der Vereinten Nationen die Afghanen als größte Flüchtlingsgruppe weltweit ablösen. "Wir folgen den Spuren Bosniens", sagt der libanesische Kolumnist und Syrien-Experte Sarkis Naoum. "Dieser Krieg wird sich Zeit nehmen, es wird vielleicht sieben, acht oder zehn Jahre dauern, bis die Weltmächte sich entscheiden, ihn zu lösen."

Im UN-Sicherheitsrat herrscht beim Thema Syrien seit Jahren praktisch Stillstand. Die Vetomächte USA, Großbritannien und Frankreich auf der einen, sowie Russland und China als Assad-Unterstützer auf der anderen Seite blockieren sich gegenseitig. Gleichzeitig wird die Lage vor Ort immer unübersichtlicher und unsicherer. Syrien droht immer mehr zu zersplittern. Oft wechseln die Machtverhältnis von einem zum nächsten Stadtviertel, oder gar von Straße zu Straße, von einem Kontrollposten zum nächsten. Bewohner beklagen anarchische Zustände, Chaos und den Zusammenbruch jeglicher staatlicher Autorität. Auch unter den Rebellen gibt es keine klare Führungsstruktur. Die international anerkannte Opposition im Exil genießt bei den Kämpfern im Land keine Glaubwürdigkeit.

UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres warnte vor der "totale Katastrophe" in Syrien. Der Fokus der internationalen Gemeinschaft habe sich von Syrien in die Ukraine verlegt. Der blutige Kampf finde quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit.

Al-Kaida-Kämpfer oder Gruppen, die mit deren extrem radikalen Ansichten sympathisieren, haben sich das zunutze gemacht und sich unter die Aufständischen gemischt, um dann in zahlreichen Orten das Heft selbst in die Hand zu nehmen und den Bewohnern ihre Ziele und Weltansichten aufzuzwingen.

Elektroschocks, abgehackte Finger, Exekutionen

Wie viele Al-Kaida-Kämpfer sich mittlerweile in Syrien tummeln, ist unklar. Ein Experte schätzt ihre Zahl auf 25.000 von denen 10.000 aus dem Ausland stammen, darunter 2000 aus Europa. Sie spielen eine zentrale Rolle in dem Bürgerkrieg, in dem derzeit weder Assad noch die Rebellen die Oberhand haben. Als besonders brutal gilt die Gruppe Islamischer Staat im Irak und der Levante (Isil), deren Vorbild Al-Kaida ist.

Als die Extremisten kamen, schien das zunächst auf eine Niederlage Assads hinauszulaufen. Doch die Realität sah anders aus: "Erst haben sie uns gesagt, es sei verboten zu klatschen und zu singen bei den Protesten. Dann töteten sie den Mentor der Revolution, Scheich Jussef, einen moderaten Muslim", sagt der 25-jährige Assad-Gegner Abdallah Chali aus Assas. In den Kindergärten habe Isil Jungs von Mädchen getrennt und in den Schulen hätten sie überprüft, ob Mädchen den von Kopf bis Fuß reichenden schwarzen Tschador trügen, sagt der 27-jährige Aktivist Mahmud Osman aus Aleppo. "Dann fingen sie an, die Mädchen zu fragen, ob sie sie heiraten. Die Eltern hörten auf, ihre Töchter in die Schule zu schicken."

Musik wurde verboten, ebenso das Rauchen. Männer und Frauen durften sich nur dann miteinander abgeben, wenn sie eng verwandt waren. Christen mussten nach Angaben von Einwohnern Schutzgeld zahlen. Männer wurden auf öffentlichen Plätzen geköpft, weil sie für die Freie Syrische Armee kämpften, der überwiegend moderate Rebellen angehören.

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"Jeder Abtrünnige sollte geköpft werden"

Erst als lokale islamische Gelehrte den Kampf gegen Isil öffentlich guthießen, zog sich die Gruppe aus Assas in ihre Hochburg Rakka weiter östlich zurück. Jeden Freitag seien dort Menschen hingerichtet worden, sagte der 30-jährige Chaled Ibrahim. Abu Thaer, ein 25-jähriger Computer-Wissenschaftler und Medienaktivist, wurde von Isil eingesperrt. Nicht ein Tag sei vergangenen, an dem er sich nicht gewünscht habe, tot zu sein. "Sie kamen immer wieder in unsere Zelle mit einem Schwert und sagten: 'Ihr seid Ungläubige, wir werden Euch die Kehlen durchschneiden.'" Kämpfer der Freien Syrischen Armee seien gefoltert worden. "Einen Tag schnitten sie einen Finger ab, dann ein Ohr und dann ließen sie sie bluten." Andere Opfer berichten davon, wie Gefangene mit Elektroschocks und Schlägen misshandelt wurden.

Isil bemüht sich nicht sonderlich, diesen Darstellungen zu widersprechen. "Isils Ziel ist es, ein Islamisches Kalifat zu errichten, das Muslime aus der ganzen Welt anzieht. Unser Ziel ist es, Ungläubige zu bekämpfen, egal ob es nun Baschar al-Assad ist oder die Freie Syrische Armee", sagt Abu Chaled über Skype der Nachrichtenagentur Reuters. Er war einst ein Soldat in Syriens Armee und ist heute ein Isil-Offizier. "Jeder Abtrünnige sollte geköpft werden und Frauen müssen der Scharia folgen", sagt er.

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