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Hinweise auf Selbstmordanschlag

Rund 100 Tote bei Explosionen in Ankara

  • Veröffentlicht: 10.10.2015
  • 22:24 Uhr
  • dpa
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© dpa

Ausgerechnet eine Friedensdemonstration ist in der türkischen Hauptstadt zum Ziel eines verheerenden Anschlags geworden. Regierungskritiker sprechen von einem "Angriff des Staates auf das Volk" und gehen von fast 100 Toten aus.

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 Vor der Parlamentswahl in der Türkei sind beim schwersten Terroranschlag in der jüngeren Geschichte des Landes nach offiziellen Angaben mindestens 86 Menschen getötet worden. Nach Informationen aus der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP stieg die Zahl der Todesopfer bis zum Samstagabend auf fast 100. Die regierungskritische Medizinervereinigung TTB habe 97 Tote registriert, sagte ein HDP-Funktionär, der anonym bleiben wollte, am Samstagabend der Deutschen Presse-Agentur. Eine offizielle Bestätigung dafür gab es nicht.

Bei dem Doppelanschlag auf eine regierungskritische Friedensdemonstration in der Hauptstadt Ankara wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums mindestens 186 Menschen verletzt. Die HDP war nach eigener Einschätzung Ziel des Anschlags vom Samstag und machte der politischen Führung des Landes schwere Vorwürfe. Zu der Bluttat kam es drei Wochen vor Neuwahlen für das Parlament.

Oppositionelle HDP gibt AKP die Schuld

"Das ist kein Angriff auf die Einheit unseres Landes oder dergleichen, sondern ein Angriff des Staates auf das Volk", sagte der Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas. "Ihr seid Mörder. An Euren Händen klebt Blut." Demirtas kritisierte, die AKP-Regierung habe weder den Anschlag auf pro-kurdische Aktivisten im Juli im südtürkischen Suruc noch den auf eine HDP-Wahlveranstaltung im Juni in der Kurdenmetropole Diyarbakir aufgeklärt.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan erklärte: "Ich verurteile diesen abscheulichen Angriff zutiefst, dessen Ziel die Einheit, Solidarität und der Frieden unseres Landes gewesen ist." Erdogan versprach eine Aufklärung des Anschlags, zu dem sich zunächst niemand bekannte. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sagte: "Es gibt sehr starke Hinweise darauf, dass dieser Anschlag von zwei Selbstmordattentätern verübt worden ist." Er kündigte eine dreitägige Staatstrauer an.

Als mögliche Urheber der Tat nannte Davutoglu die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und zwei linksextremistische Terrorgruppen. Der HDP-Vertreter wies die Anschuldigung zurüch: "Das ist Unsinn", sagte er. Möglicherweise wolle die von der islamisch-konservativen AKP geführte Regierung den Anschlag dazu nutzen, die für den 1. November geplanten Neuwahlen für das Parlament abzusagen.

Nach dem Anschlag in Ankara demonstrierten am Samstagabend in der Millionenmetropole Istanbul Tausende Menschen gegen die Regierung. Sie skandierten "Dieb - Mörder - Erdogan", wie ein dpa-Reporter berichtete. In Sprechchören wurde die verbotene kurdische Arbeiterpartei zu Vergeltungsaktionen aufgefordert. "Rache - PKK", riefen Teilnehmer. Internetnutzer berichteten, der Zugang zu sozialen Medien wie Twitter sei erschwert oder ganz unmöglich.

Auf Bildern vom Tatort am Bahnhof in Ankara waren Leichen zu sehen, die mit Flaggen und Bannern unter anderem der HDP bedeckt waren. Ein Video zeigt, wie junge Demonstranten tanzen, als hinter ihnen eine der Bomben detoniert. Die HDP teilte mit, Polizisten seien erst nach 15 Minuten am Anschlagsort eingetroffen und hätten dann Tränengas gegen Menschen eingesetzt, die Verletzten helfen wollten.

USA und Nato bezeugen Bündnissolidarität

In ersten Reaktionen aus dem Ausland wurde der Anschlag auch als Angriff auf Demokratie und Meinungsfreiheit in der Türkei verurteilt: Sollte sich bestätigen, dass es sich wie vermutet um die Taten von Terroristen handele, "dann handelt es sich um besonders feige Akte, die unmittelbar gegen Bürgerrechte, Demokratie und Frieden gerichtet sind", schrieb Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Davutoglu. Bundespräsident Joachim Gauck sprach von einem "Anschlag auf die Menschlichkeit, die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt".

Die US-Regierung bekräftigte ihre Entschlossenheit im Kampf gegen den Terrorismus. "Derartige entsetzliche Gewalttaten werden uns ganz gewiss nicht abschrecken, sondern uns nur in unserer Entschlossenheit bestärken", erklärte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, Ned Price. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte: "Alle Bündnispartner stehen Seite an Seite im Kampf gegen die Geißel des Terrorismus." Auch die iranische Regierung verurteilte den Terrorakt und sprach den Opfern und deren Angehörigen Beileid aus.

Steinmeier: Angriff auf Demokratie

Die Täter wollten offensichtlich vor den Wahlen ein Klima der Angst schüren, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). "Dieser brutale Terroranschlag auf friedliche Demonstranten ist zugleich auch ein Angriff auf den demokratischen Prozess in der Türkei." Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) kritisierte im Zusammenhang mit dem Anschlag die EU-Flüchtlingspolitik: "Es kennzeichnet den ganzen Zynismus der europäischen Flüchtlingsabwehrpolitik, wenn diese Türkei zum sicheren Herkunftsland definiert werden soll."

Auch der russische Präsident Wladimir Putin sprach Erdogan sein Beileid aus. Im Kampf gegen den Terror müsse man alle regionalen und überregionalen Anstrengungen vereinen, erklärte das russische Außenministerium in Moskau. Vorübergehende Einzelinteressen müssten außen vor bleiben. Die Türkei hat Russland wegen der Luftangriffe in Syrien scharf kritisiert.

Deutsche sollen Zentrum von Ankara meiden

Das Auswärtige Amt rät Deutschen, das Zentrum der türkischen Hauptstadt zu meiden. "Landesweit ist mit einer Zunahme der politischen Spannungen zu rechnen", hieß es am Samstagabend bei den Reisehinweisen zur Türkei. "Weitere Anschläge oder gewaltsame Auseinandersetzungen sind nicht ausgeschlossen. Es wird daher nochmals dringend darauf hingewiesen, dass sich Reisende von Demonstrationen, Wahlkampfveranstaltungen und größeren Menschenansammlungen, insbesondere in größeren Städten, fernhalten sollten."

Die PKK kündigte am Samstag an, Angriffe auf den Staat vor der Wahl unter Vorbehalt auszusetzen. Bedingung sei, "dass keine Angriffe gegen die kurdische Bewegung, das Volk und Guerillakräfte ausgeführt werden", hieß es in Erklärung der PKK-Führung, die offenbar vor dem Anschlag verfasst wurde. Von einer Waffenruhe spricht die PKK nicht. Vize-Ministerpräsident Yalcin Akdogan hatte am Freitag gesagt, auch im Falle einer einseitigen Waffenruhe der PKK würden die Sicherheitskräfte weiter gegen die Bewegung vorgehen.

In mehreren deutschen Städten gingen nach dem Terroranschlag in der Türkei am Samstag spontan Hunderte Menschen auf die Straße. Zu prokurdischen Demonstrationen kam es unter anderem in Berlin, Hamburg, Frankfurt/Main und Stuttgart. Die Polizei sprach von einem friedlichen Verlauf der Proteste.

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