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Spitzengastronomie

Ausgezeichnet, erschöpft, entzaubert - der Michelin-Stern als Last

  • Veröffentlicht: 20.06.2025
  • 17:41 Uhr
  • Domagoj Klobucar
Zwei-Sterne-Koch Tim Raue (Restaurant Tim Raue, Berlin)  gab die Jagd nach dem dritten Stern zugunsten seiner kreativen Freiheit und seiner Gesundheit auf. (Symbolbild)
Zwei-Sterne-Koch Tim Raue (Restaurant Tim Raue, Berlin) gab die Jagd nach dem dritten Stern zugunsten seiner kreativen Freiheit und seiner Gesundheit auf. (Symbolbild)© Gerald Matzka/dpa-Zentralbild/dpa

Ein Michelin-Stern ist das höchste Ziel vieler Köche – und trotzdem für manche der Anfang vom Ende. Warum immer mehr Spitzenköche den Stern freiwillig zurückgeben.

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"Denkst du bei jedem Song, den du schreibst: 'Der muss unbedingt einen Grammy gewinnen!'?", fragt Koch und Unternehmer Tim Mälzer einen befreundeten Musiker in seinem Podcast "Fiete Gastro". Zuvor hatte der Freund nicht nachvollziehen können, warum Mälzer mit seiner Arbeit nie nach einem Michelin-Stern oder einer Kochmütze (Haube), die vom Restaurantführer Gault-Millau vergeben wird, gestrebt hat.

Es ist eine Frage, die tiefer geht, als sie zunächst klingt. Der Michelin-Stern ist für viele das ultimative Siegel für kulinarische Exzellenz. Doch was als Triumph beginnt, kann oftmals in dramatischer Erschöpfung enden.

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Wer einen Stern bekommt, steht ab dem Moment der Auszeichnung unter Beobachtung. Von Gästen, Tester:innen, Medien. "Ein Stern verändert alles", sagte der französische Spitzenkoch Sébastien Bras gegenüber dem britischen "Guardian", nachdem er 2017 auf seine drei Sterne verzichtet hatte. "Jede Mahlzeit könnte bewertet werden", erklärte er. Für ihn sei das "der Verlust der Freiheit" gewesen, nicht mehr für die Gäste zu kochen, sondern für die "Unsichtbaren mit dem roten Buch in der Tasche". Damit ist der "Guide Michelin" gemeint.

Ähnlich sah es der britische Koch Marco Pierre White, einst der jüngste Drei-Sterne-Koch der Welt. 1999 gab er seine Sterne zurück – freiwillig. Seine Begründung im Interview mit dem britischen "Telegraph": "Die Leute, die mir die Sterne gegeben haben, hatten weniger Ahnung als ich. Deshalb fiel es mir leicht, mich zurückzuziehen."

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Wenn der Druck zu hoch wird

Der Stern bringt Prestige mit sich, ausverkaufte Restaurants, internationale Anerkennung, kann aber seinen Preis fordern.

Die Liste derer, die diesem Druck letztlich nicht mehr standhielten, ist lang: Beginnend mit dem dreifachen Sternekoch Bernard Loiseau, der 2003 tot in seinem Haus aufgefunden wurde – Suizid. Kollege und Starkoch Paul Bocuse sagte gegenüber "Le Parisien" seinerzeit: "Bravo Gault-Millau, Sie haben gewonnen. Ihr Urteil hat einem Menschen das Leben gekostet." Der Chef des Gault-Millau, Patrick Mayenobe, wies alle Vorwürfe zurück. Er könne sich nicht vorstellen, dass die Herabstufung etwas mit dem Tod Loiseaus zu tun habe, sagte er dem Fernsehsender LCI. "Eine Note oder ein Stern weniger tötet nicht."

"Ihr Urteil hat einem Menschen das Leben gekostet."

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Paul Bocuse, Sternekoch

Loiseaus Mitarbeiterin Christine Leconte im burgundischen Saulieu sagte hingegen, sicherlich habe ihm das Urteil zu schaffen gemacht. Der Tod des Chefs erschütterte Menschen weit über die kulinarisch-gastronomischen Grenzen hinaus. Loiseau wurde 52 Jahre alt.

Zu was enormer Erfolgs- und Belastungsdruck in der Spitzengastronomie auch bei deutlich jüngeren Köchen, denen die Welt noch offensteht, führt, zeigte der Fall des Martin Bentzen - ein zum Zeitpunkt seines Todes gerade einmal 32-jähriges, aufstrebendes Talent der dänischen Haute Cuisine. 2009 startete er seine Karriere als Koch im weltberühmten Gourmet-Restaurant "Noma" in Kopenhagen - und er startete so richtig durch. Nach Ausbildung und wenigen Praxisjahren war er 2014 bereits Chefkoch und versuchte in der "Napa Wine Bar & Kitchen" in Shanghai neue Gipfel zu erklimmen. Doch stattdessen kam der freie Fall. Nach nur einem Jahr war er tot. "Mein Bruder stand unter großem Druck", schrieb seine Schwester Nina auf einer eigens eingerichteten Facebook-Seite zum Gedenken an ihren Bruder. "Leider machte sein schönes Herz nicht mit. Er starb an Stress." Bentzen brach zusammen, bevor er seinen ersten Stern überhaupt erreichte.

Chancen und Perspektiven

Dass Restaurantführer wie der Guide Michelin, der Gault-Millau, The World's 50 Best und viele weitere durch ihre Arbeit als Bewerter von Spitzengastronomie Menschen nicht alleinverantwortlich in die Verzweiflung treiben, die in Einzelfällen tragisch endet, sollte an dieser Stelle erwähnt sein. Denn die Liste derer, denen eine solche Auszeichnung überhaupt diese Welt eröffnet und finazielle Möglichekeiten geboten hat, ist wesentlich länger, als die der tragischen Einzelfälle.

Auszeichnungen und Preise haben andernorts dieselbe Wirkung wie in der Spitzengastronomie - bereits das zweite Werk von Autor:innen, Regisseur:innen, Künstler:innen oder Journalist:innen wird in der Regel, nachdem das vorangegange prämiert wurde, mit gänzlich anderer Erwartungshaltung gelesen, gesehen, interpretiert und bewertet. Wer im Sport herausragende Leistungen erbringt, hat mit erhöhter Zufriedenstellung an sich von Publikum und Umfeld umzugehen.

"Wer nach Perfektion strebt, wird auch Leistungsdruck verspüren", sagt Dr. don Greene, Sport- und Leistungspsychologe, der unter anderem mit Sänger:innen und Tänzer:innen der  "The Juilliard School" in New York arbeitet. Wichtig sei, sich nicht lähmen zu lassen, sondern nach Exzellenz zu streben, sich auf das zu konzentrieren, was man kontrollieren könne. Ein Sieg oder das Publikum seien nicht zu beeinflussen. "Was zählt, ist, dass man alles gibt." rät Dr. Greene.

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Es bleibt eine individuelle Entscheidung

Manche Köche entscheiden sich bewusst gegen den Sternenweg – wie Tim Mälzer selbst. Bei "Fiete Gastro" macht er klar, dass sein Fokus auf "emotionaler Küche" liege, nicht auf Inszenierung oder Hochglanz-Gastronomie. "Ich koche für Menschen, nicht für Bewertungen", sagt Mälzer.

Für viele, vor allem junge Köche,  ist eine solche Auszeichnung der erste Schritt in die Welt der Spitzengastronomie und des finaziellen Erfolgs. Ricky Saward (Seven Swans, Frankfurt am Main), erster und lange Zeit einziger veganer Sternekoch (2 Sterne Michelin) bestätigte das in einem Interview mit dem Vegan-Magazin  "velivery": "Der Stern ist natürlich der Oskar der Köche und jeder kann etwas damit anfangen. Zum Schluss geht es aber nicht um die Anzahl der Auszeichnungen, sondern bleibt es entscheidend, was die Gäste davon halten. Für sie koche ich." Vermutlich ist das im Grunde der Antrieb aller Köche.

Suizid-Hilfe-Hinweis

Sollten Sie selbst suizidale Gedanken haben oder haben diese bei einem Angehörigen oder Bekannten festgestellt, bietet die Telefonseelsorge Hilfe. Anonyme Beratung erhalten Sie rund um die Uhr unter den kostenlosen Nummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222. Auch eine Beratung über das Internet ist möglich unter "telefonseelsorge.de."

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  • Verwendete Quellen:
  • "Fiete Gastro - der auch kulinarische Podcast": Folge 64 "Ring of Eier"
  • "Fiete Gastro - der auch kulinarische Podcast": Folge 82 "Der große Motzarella"
  • The Guardian: "French chef Sébastien Bras gives up Michelin stars"
  • The Telegraph: "Marco Pierre White Interview"
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